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Lebenslügen

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – wie eine tibetanische Gebetsmühle klappern die Beschwörungen aus dem Munde von Politikern aller Parteien. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist eine der großen Lebenslügen der meisten westlichen Gesellschaften.

Familie und Beruf sind unter den Bedingungen der spätkapitalistischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft eher ein Antagonismus als eine Symbiose. Sie sind nicht miteinander vereinbar. Berufstätigkeit geht auf Kosten der Familie und umgekehrt.

Daran kann auch verbesserte außerhäusliche Kinderbetreuung nichts ändern. Denn die steht genauso im Gegensatz zur Familie wie der Beruf. Sie macht Berufstätigkeit möglich, nicht Familie. Eine Familie ist nur dann auf zusätzliche Kinderbetreuung angewiesen, wenn alle Bezugspersonen gleichzeitig einem Beruf nachgehen oder aus anderen Gründen abwesend sind.

Es ist kein Zufall, dass seit Anfang der siebziger Jahre gleichzeitig die Geburtenrate gesunken ist und die Erwerbstätigkeit zugenommen hat. 1970 waren in Westdeutschland 26,589 Millionen Menschen erwerbstätig und leisteten durchschnittlich 1.966,4 Arbeitsstunden pro Jahr. Das entspricht bei 46 Arbeitswochen pro Jahr genau 42,75 Stunden pro Woche und Arbeitnehmer.

1991 leisteten 31,261 Millionen Erwerbstätige in Westdeutschland durchschnittlich 1.558,8 Stunden, also 33,9 Stunden pro Woche. Die Gesamtsumme der Arbeitsstunden sank von 52,285 (1970) auf 48,730 Milliarden (1991). Immer mehr Menschen leisten immer weniger Stunden. Im vierten Quartal 2006 waren in Deutschland 39,716 Millionen Menschen erwerbstätig, 1991 waren es 38,621.

Die zunehmende Erwerbstätigkeit wird seit den 70er Jahren von kontinuierlich angewachsener Arbeitslosigkeit begleitet. Arbeitslos ist, wer arbeitswillig ist, aber keine Stelle findet. Demnach würde in Deutschland sogar mehr als jeder zweite Bürger, vom Säugling bis zum Greis, einem Beruf nachgehen, wenn es dafür nur Beschäftigung genug gäbe.

Vor die freie Wahl zwischen Familie und Beruf gestellt, entscheiden sich also seit mehr als einer Generation immer mehr Menschen für den Beruf und damit gegen eine Familie. Tendenziell steigt so das Arbeitskräfteangebot auf dem Arbeitsmarkt, und sofern die Nachfrage dem nicht Schritt hält, sinkt tendenziell der Preis – die Reallöhne schrumpfen.

Die gesamte Lohnsumme, ein erheblicher Teil des Bruttosozialprodukts, wird zudem unter immer mehr Köpfen aufgeteilt. Der einzelne Arbeitnehmer erhält einen kleineren Teil der Lohnsumme als zuvor. Solange die Wirtschaft wächst und die Löhne steigen, fällt dieser Prozess der schleichenden Umverteilung nicht ins Gewicht.

Kritisch wird es, wenn die Wirtschaft stagniert und mit ihr die Löhne. Denn die Lebenshaltungskosten steigen weiter, mithin schrumpft das ohnehin geringe frei verfügbare (also nicht durch laufende Verpflichtungen und Fixkosten gebundene) Monatseinkommen der meisten Familien oder wird gar negativ – Schulden laufen auf.

Diese säkularen Trends verschlechtern die Situation der Familien. In immer mehr Fällen reicht ein Einkommen nicht aus, um davon eine Familie zu ernähren. Was als höhere Erwerbsneigung begann, wird zum Zwang zur Erwerbstätigkeit.

Auch im Berufsleben entstehen neue Ungleichheiten. Wer keine familiären Rücksichten nehmen muss, kann sich vollständig dem Beruf widmen. Ein neuer Typus des Arbeitnehmers tritt auf: der kinderlose, immer verfügbare Arbeitnehmer, der seine Erfüllung allein im Beruf findet.

Dieser Typus wird immer häufiger. Noch vor zwei Generationen gab es ihn so gut wie gar nicht. Evolutionär betrachtet ist er zwar ein Auslaufmodell, da er keine Nachkommen hat. Doch er beeinträchtigt die Karrierechancen für Eltern.

Gegen die DINKs, Doppelverdiener ohne Kinder, haben Familien wirtschaftlich keine Chance. Selbst wenn beide Eltern in Vollzeit arbeiten, fressen bei Normalverdienern die Kosten der Kinderbetreuung große Teile des zweiten Einkommens auf.

Daran würde sich nur dann etwas ändern, wenn die Kinderbetreuung komplett vom Staat finanziert würde. Doch auch dann müssten diese Kosten aus dem Bruttosozialprodukt bestritten werden, und es ist wenig wahrscheinlich, dass Familien dann keine höhere Steuern zahlen oder nicht auf andere staatliche Leistungen verzichten müssten.

Die höhere Erwerbsneigung untergräbt so die wirtschaftliche Basis der Familie. Familien geraten gegenüber der übrigen Bevölkerung ins Hintertreffen. Die freie Wahl zwischen Familie und Beruf mag frei sein für den, der sie ausübt – sie schafft Unfreiheit für andere.

Historisch gesehen ist diese freie Wahl zwischen Familie und Beruf für breite Bevölkerungsschichten ein neuartiges Phänomen. Erst die Adenauersche Rentenreform vor 50 Jahren hat die wirtschaftliche Abhängigkeit von eigenen Nachkommen gelockert – und damit die Möglichkeit geschaffen, auf Nachkommen zu verzichten.

Und erst die breite Verfügbarkeit von künstlichen Verhütungsmitteln seit den 60er Jahren hat es möglich gemacht, diesen Verzichtswunsch in die Tat umzusetzen und trotzdem nicht ehelos oder enthaltsam zu leben. Beides zusammen hat seit dem Pillenknick eine immer stärkere Unwucht in der Lastenverteilung zwischen den Generationen und innerhalb der einzelnen Generationen geschaffen.

Mit Rentenbeiträgen beteiligen sich alle Erwerbstätigen am Unterhalt für die Eltern- und Großelterngeneration. Der Unterhalt der Kinder bleibt hingegen allein den Eltern überlassen. Eltern verzichten dafür nicht nur auf Erwerbseinkommen, sondern auch auf Rentenansprüche.

Kinderlose erwerben in dieser Zeit Rentenansprüche, die später von den Kindern anderer Leute bedient werden müssen – die selbst meist geringere Rentenansprüche haben, obwohl sie die Kosten jener Kinder überwiegend allein getragen haben.

Dem wäre allenfalls durch massive Umverteilung von Kinderlosen zu Familien entgegenzuwirken. Das jedoch kehrte die heutige Lage vollständig um. Seit fünfzig Jahren wird massiv von Familien zu Kinderlosen umverteilt.

Mit der diskutierten Kürzung von Familienleistungen zugunsten der staatlichen Finanzierung von Kinderkrippen würde sich an diesem Ungleichgewicht überhaupt nichts ändern. Es würde im Gegenteil weiter verschärft.

Die Umverteilung von Familien zu Berufstätigen tritt damit in eine neue Phase: Genommen wird den Eltern, die ihre Kinder selbst betreuen (und dafür auf Erwerbseinkommen verzichten), gegeben den Eltern, die Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen, um Erwerbseinkommen zu erzielen.

Eine gerechte Lösung wäre zum Beispiel ein erheblich höheres Kindergeld, das die Kosten von Krippen, Kindergärten, Horten und Berufsausbildung ausgleichen könnte. Es wäre das fehlende Gegenstück zur Rente und müsste wie die Rente aus Sozialbeiträgen oder aus Steuermitteln finanziert werden. Die Höhe müsste sich am Ziel orientieren, die heutige Umverteilung von Familien zu Kinderlosen zu kompensieren.

Von solchen Zielen allerdings ist die gegenwärtige Familienpolitik weit entfernt. Sie suggeriert das Unmögliche – die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – und vergrößert die wirtschaftliche Benachteiligung von Familien, statt sie zu verringern.

Lakonisch referiert Rudolf Maresch in Telepolis einige Thesen von Norbert Bolz:

Während die Kluft zwischen dem Lebensstil von Eltern und dem von Kinderlosen stetig wächst, schreitet der Zerfallsprozess, den Funktionalisten beschreiben, munter voran. Sein Ende ist am Horizont schon zu beobachten. Ganz nüchtern müsse man daher feststellen, dass Kinderaufzucht und Erziehung nicht mit der modernen Wirtschaft kompatibel sind. Mit Kindern kann der moderne Kapitalismus, außer sie konsumieren, wenig anfangen. Eine Familie zu gründen, ist mittlerweile eine törichte Entscheidung mit ungewissem Ausgang. Wer sich dazu bekennt, handelt ökonomisch dumm, weil er sich unnötige Kosten aufbürdet, die er besser anderweitig ausgibt, aber auch kulturell fahrlässig, weil er sich freiwillig eigener Chancen und persönlicher Bewegungsfreiheit beraubt.

Kinder haben keinen Wert, in sie zu investieren, macht keinen Sinn, sie bleiben unkalkulierbare Fixkosten hinsichtlich Ausbildung, Sozialisation und Beruf. […] Der „Vorsorgestaat“ (Francois Ewald) oder „vorsorgende Sozialstaat“, wie es im SPD-Programm jetzt heißt, lügt sich in die Tasche, und mit ihm all jene Kohorten rotgrüner Besserverdiener, die glauben, den „Kinderschwund“ durch eine „Verstaatlichung der Kinder“ beikommen zu können. Sie in soziale Bewahranstalten zu sperren, wird kaum für Abhilfe sorgen. Sie bieten vielleicht Betreuung, aber keine Hingabe und liebevolle Zuwendung. Und sie bieten Kompensation, um das schlechte Gewissen und Schuldgefühle von Eltern zu betäuben. Was die Gesellschaft im innersten zusammenhält: Handlungen zu begehen ohne Gegenleistung zu erwarten, kann weder vom Markt noch vom Staat organisiert werden.

Dem ist wenig hinzuzufügen.

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Kommentar

  1. In der Umverteilungsfrage möchte ich dir zustimmen, allerdings ist hier eben immer die Frage woher das Geld nehmen und wem wegnehmen. Meine einfachste Lösung wäre neben den üblichen Verdächtigen an überflüssigen Subventionen, das Streichen der Bevorteilung der Ehe z.B. durch Ehegattensplitting. Die Ehe ist eine Entscheidung zwischen zwei Menschen und die stabilste Lebensform die wir haben, ohne Zweifel auch die Beste. Auch die Beste um Kinder zu erziehen, das war auch der Hintergrund für die finanzielle Förderung, die aber heute nicht mehr berechtigt ist. Viele DINKs, schöne Formulierung übrigens, heiraten dann ja schlicht auch aus steurlichen Vorteilen oder anderen Bevorzugungen, ohne je einen Gedanken an Kinder zu verschwenden. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die gleichen Personen die gegen eine einseitige Krippenpolitik argumentieren auch die Unantastbarkeit der finanziellen Bevorzugung der (oft kinderlosen) Ehe propagandieren. Dabei wäre doch auch ihnen geholfen den Kinderlosen Geld weg zunehmen und den Familien Geld zu geben.

    Was deine Meinung der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf im Prinzip angeht, gehst du meiner Meinung nach von der falschen Voraussetzung aus beide Punkte als fixe Blöcke zu sehen. Beides zusammen unverändert mit dem gleichen Zeitaufwand in Vereinbarung zu bringen ist sicher unmöglich. Der Tag hat nun mal nur 24 Stunden und lässt sich nicht auf 48 Stunden verdoppeln. Der Witz an Veränderungen ist aber, dass sie Veränderungen mit sich bringen. Familienbild und Berufsbild ändern sich, mal gut und mal weniger gut – subjektiv betrachtet. Eine ausreichende Betreuung ist dabei nur ein kleiner Mosaikstein den der Staat beisteuern kann, Arbeitgeber mit auf Familien ausgerichteten Arbeitszeitmodellen sind ein weiterer, dazu noch die gute alte Telearbeit, die Organisation der Familien untereinander, um gegenseitig bei der Erziehung zu helfen usw. usf. Wenn man Familie und Beruf als fixe Blöcke sieht, die sich nicht ändern dürfen, funktioniert die Vereinbarkeit natürlich nicht.

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  • Erwerbsneigung und Recht auf Arbeit at Commentarium Catholicum 5. März 2007

    […] hohe Erwerbsneigung ist keinesfalls unproblematisch, sie sägt nämlich am Ast, auf dem wir alle sitzen. Ein Recht auf Arbeit ist de facto […]